[Rezension] Donna Tartt – "Der kleine Freund"

Donna Tartt – Der kleine Freund
Gegenwartsliteratur
 

 Originaltitel: „The Little Friend“
 Übersetzer: Rainer Schmidt
 Verlag: Goldmann-Verlag
 ISBN-13: 978-3-442-45963-6 
 Seiten: 767 Seiten
 Erschienen: 8. August 2005
 Umschlaggestaltung: Designe Team, München
 Umschlagfoto: Geoff Spear
 
   
Buchrückentext
„Alexandria, eine kleine Stadt in den Südstaaten: Hier wächst Harriet Cleve in einem Zuhause voller Geborgenheit auf, und dennoch lastet ein dunkler Schatten auf ihrer Kindheit. Zwölf Jahre sind seit jenem Moment vergangen, in dem für die Familie Cleve die Welt jäh zum Stillstand kam - eine Nachbarin fand Harriets neunjährigen Bruder Robin erhängt an einem Baum. Die Umstände seines rätselhaften Todes blieben in all der Zeit ungeklärt, doch in in diesem heißen Sommer ist die eigensinnige Harriet fest entschlossen, Robins Mörder ausfindig zu machen ...“

Meine Meinung
Ich liebe den Schreibstil von Donna Tartt, leider hat sie bisher erst drei Bücher geschrieben, so dass ich mir dieses hier aufgespart habe. Und wieder beweist sie ihre unglaubliche Erzählkunst, nur sollte man nicht – wie es der Klappentext vielleicht glauben lässt – auf einen Krimi oder Thriller hoffen. 

In den 1970er Jahren, irgendwo in den Südstaaten, wächst die kleine Harriett unter besonderen Umständen auf. Ihr kleiner Bruder Robin wurde als Kind ermordet, der Täter nie gefunden. Seitdem ist Harriets Vater weggezogen, ihre Mutter und Schwester haben sich in eigene Welten zurückgezogen, so dass sie im Kreis ihrer geliebten Tanten aufwächst. Ihr lässt keine Ruhe, wer ihren Bruder umgebracht hat, doch sie hat einen Verdacht und den perfiden Plan, Rache zu nehmen.

Obwohl man den Eindruck haben könnte, es geht vor allem um die Suche nach einem Mörder, ist es vielmehr eine Entwicklungsgeschichte, und ein Bild der damaligen Zeit. Im Mittelpunkt steht Harriet, die in einer ungewöhnlichen Familienkonstellation aufwächst, und Donna Tartt verwendet viel Zeit damit, nicht nur die Atmosphäre dieses Sommers in den 1970er Jahren in den Südstaaten einzufangen, sondern auch, ihre Charaktere zu zeichnen und einzuführen. Dabei hat sie einen eher langsamen Erzählton, so dass mancher vielleicht auch Langatmigkeit verspürt, dafür aber sind die Figuren großartig gezeichnet, und auch die Stimmung im Land ist lebhaft und fassbar, sehr authentisch und gelungen eingefangen. Ich zumindest habe mich versetzt gefühlt nach Alexandria, einer fiktiven Kleinstadt in den Südstaaten. Es gibt unglaublich viele Themen, die in die Geschichte einfließen, Freundschaft und Liebe, Trauer und Rache, aber auch soziale Gefälle sowie Rassismus scheut die Autorin nicht. An mancher Stelle ist es merkwürdig, heute politisch inkorrekte Worte zu lesen, sieht man es aber im Kontext der Handlung, passt es und trägt zur Atmosphäre bei. 

Die Charaktere sind großartig gezeichnet, und jeder hat eine eigene Geschichte, die man im Laufe des Buches erfährt und die manche Handlung vielleicht nicht verstehen lässt, aber zumindest erklärt. Harriet steht im Mittelpunkt - sie ist ein 12-jähriges Mädchen, das ich rasch ins Herz geschlossen habe. Sie ist voller Liebe und weiß manchmal nicht wohin damit, zielstrebig, ideenreich, aber auch stur und eigen. Damit passt sie gut in die sehr eigenwillige Familie – denn auch ihre Tanten, die sich ihrer angenommen haben, weil Harriets Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in einer anderen Welt zu leben scheint, sind skurril, aber dennoch auch authentisch. Allen voran Edie, die älteste der Tante, die kein Blatt vor den Mund nimmt, und zupackt, wo es nötig ist. Auch sie mochte ich mit ihrer handfesten Art, aber auch sie hat Schwächen, die sie natürlich niemals zugeben würde. Ein Herzstück ist auch Ida Rhew, eine dunkelhäutige Seele von Mensch, die sich um den Haushalt und die Kinder kümmert – bei ihr hätte ich gerne erfahren, was aus ihr wird, leider bleibt dieser Erzählstrang am Ende offen.

Es gibt neben der Familie Cleve Dufresnes noch eine andere Familie, die vor allem in der zweiten Hälfte in den Vordergrund tritt – die Ratcliffs leben vom Drogenhandel und auch hier gibt es sehr eigenwillige Charaktere, die besonders und gut gezeichnet sind. Mehr will ich aber gar nicht verraten, denn sie sind es wert, vom Leser selber entdeckt zu werden.

Der Schreibstil von Donna Tartt ist einzigartig – sie schreibt ausschweifend und poetisch, schafft eine ungeheure Erzählkraft und damit Atmosphäre; an manchen Stellen war es mir zu langsam erzählt und auch etwas zu viel an detailreichen Beschreibungen, ich kann aber nicht verleugnen, dass sie mich wie bei einem Sog in die Zeit gezogen hat und ich viele Bilder vor Augen hatte. Während die erste Hälfte eher leise und langsam erzählt, wird es in der zweiten Hälfte dann doch rasanter und spannender – man merkt, dass alles auf ein großes Finale hinausläuft, das dann auch wirklich gelungen ist. Das Ende jedoch hat mir dann leider gar nicht gefallen, weil eine große und wichtige Frage offen bleibt, von der ich mir schon gewünscht hätte, dass sie beantwortet wird.

Für mich ist dies der schwächste Roman der Autorin, ihre Erzählstärke jedoch ist unübertroffen. Ich gebe diesem Buch knappe 4 von 5 Sternen.

Mein Fazit
Man darf keinen Krimi erwarten, wie es der Klappentext vielleicht denken lässt, vielmehr ist es eine Entwicklungsgeschichte, die gerade in der ersten Hälfte ruhig und langsam erzählt wird. Dabei ist sie aber sehr atmosphärisch mit ausgefeilten Charakteren – gerade der Schreibstil der Autorin hat es mir angetan, und ich konnte mich ihrem Sog nicht entziehen. In der zweiten Hälfte kommt dann Spannung auf, das Ende aber fand ich leider enttäuschend. Ich gebe knappe 4 von 5 Sternen.

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