[Rezension] Sorj Chalandon – "Am Tag davor"

Sorj Chalandon – Am Tag davor
Gegenwartsliteratur 

Verlag: dtv
Umschlaggestaltung und -illustration: Focus + Echo /Andreas Pinkow
ISBN-13: 978-3-423-14781-1
Seiten: 320 Seiten
Erschienen: 23. Oktober 2020
Originaltitel: „Le Jour d’avant“
Übersetzer: Brigitte Große 

Zum Inhalt
„Der Tag vor der Katastrophe: Der 16-jährige Michel fährt gemeinsam mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Gemeinsam fühlen sie sich unbesiegbar. Am Tag darauf kommen bei einem Grubenunglück 42 Bergmänner ums Leben, aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung. Joseph erliegt seinen Verletzungen. Michel flüchtet sich nach Paris, auch um die Worte des Vaters zu vergessen: »Du musst uns rächen!« Doch der Schmerz vergeht nicht, und so beginnt Michel Jahre später seinen Rachefeldzug.“

Meine Meinung
Das Buch wurde im Literaturclub sehr gut besprochen und deshalb in meinem Lesekreis vorgeschlagen – zunächst war ich skeptisch, dann aber hat es einen ganz eigenen Sog auf mich ausgeübt, mich am Ende aber etwas ratlos zurückgelassen.

Der Autor verknüpft das real geschehene Grubenunglück 1974 in Frankreich, bei dem 42 Bergleute ums Leben kamen, mit einer fiktiven Geschichte, in der der Ich-Erzähler Michel im Mittelpunkt steht. Er hat seinen Bruder bei dem Unglück verloren, aber er starb erst Tage später im Krankenhaus und wurde deshalb nicht zu den tragischen Opfern gezählt. Michel kommt mit dem Tod seines geliebten Bruders überhaupt nicht zurecht, und sein Leben ist nur von einem Gedanken geprägt – Rache zu nehmen.

Ich hatte am Anfang etwas Probleme, in die Geschichte reinzukommen, da ich zuvor ein Buch mit einem eher blumigen Schreibstil gelesen hatte und hier das Geschehen vor allem mit kurzen Sätzen beschrieben wird. Zum Glück hat sich das dann aber gegeben, auch wenn ich kein Freund eines solchen Schreibstils bin, weil ich ihn als kalt und oft auch als abgehackt empfinde. 

Michel ist insofern eine interessante Figur, da er dem Leser einiges abverlangt. Meine Sympathie für ihn hat im Verlauf seiner Geschichte mehrfach geschwankt – mal habe auch ich ihn als Opfer gesehen, dann ging mir sein Selbstmitleid auf die Nerven, diesen anhaltenden Rachegedanken habe ich nicht verstanden und auch nicht, warum er sich nicht Hilfe gesucht hat. Zudem gibt es dann einen Twist, der noch mal ein ganz anderes Licht auf alles Geschehene wirft – und ab da war ich dann auch völlig ratlos, was ich von Michel halten soll. Letztlich ist er eine tragische Figur, die nicht aus ihrer Haut kann und sich selber vieler Dinge beraubt. So traurig ich das finde, halte ich es tatsächlich auch für realistisch – und das macht mich sehr nachdenklich. 

Neben der persönliche Geschichte Michels wird aber auch das politische Thema rund um das Unglück angesprochen – es hat keinen Verantwortlichen gegeben oder zumindest wurde danach auch nicht geforscht, obwohl doch anscheinend einige Sicherheitsmaßnahmen aus Profitgier nicht durchgeführt wurden. Relativ wenig erfährt man über die Arbeit der Bergleute selber, dafür aber umso mehr über die Umstände – und das war sehr interessant, denn weder hatte ich vom „Hasenbrot“ noch vom „Saal der Gehängten“ schon mal gehört. Toll war auch die Atmosphäre, die der Autor eingefangen hat – zwar düster und dreckig, aber genau so habe ich mir eine Bergarbeiter-Siedlung auch vorgestellt. Durch die Beschreibungen konnte ich mir den ganzen Dreck, der allem Schrubben und Putzen standhält, sehr gut vorstellen, vielleicht auch, weil ich selber unweit einer solchen Siedlung großgeworden bin und sie immer wie unter einer dreckigen Staubwolke liegend gewirkt hat. Einzig zeitlich hat die Atmosphäre für mich nicht gepasst – ich fühlte mich eher wie in den 1950er Jahren, dabei spielte dieser Teil der Geheischte ja in den 1970ern.

Der Twist im letzten Drittel des Buches hat noch mal richtig Fahrt in die Geschichte gebracht, aber auch schon vorher war es untergründig und subtil spannend und fesselnd, so dass ich immer weiter gelesen habe und unbedingt wissen wollte, wie es ausgeht. Und da wurde ich dann leider enttäuscht – denn mich hat der Schluss ratlos zurückgelassen, auch wenn die Geschichte selber viele Gedankenanstöße gegeben hat.

Ich gebe dem Buch 4 von 5 Sternen.

Mein Fazit
Eine untergründig fesselnde und spannende Geschichte, die ein historisch stattgefundenes Grubenunglück mit einer fiktiven Geschichte verknüpft – ein Twist im letzten Drittel des Buches bringt noch mal mehr Fahrt in die Geschichte. Der Protagonist ist ein interessanter Charakter, dass er mich in meinen Gefühlen sehr gefordert hat – das Ende hat mir dann leider nicht gefallen und mich etwas ratlos zurückgelassen. Ich gebe dem Buch 4 von 5 Sternen. 

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