[Rezension] Delphine de Vigan – "Ich hatte vergessen, wie verwundbar ich bin"

Delphine de Vigan – Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
Gegenwartsliteratur

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © plainpicture/Mia Takahara
ISBN-13:  978-3-832-17080-6
Seiten: 256 Seiten
Erschienen: 12. Februar 2021
Originaltitel: „Les heures souterraines“
Übersetzer: Doris Heinemann

Zum Inhalt
„Mathilde lebt mit ihren drei Söhnen in einer kleinen Wohnung in Paris. Seit dem Tod ihres Mannes kümmert sie sich allein um sie und ist stolz auf das Resultat. Die Jungen sind selbstständig und kommen im Leben gut zurecht. Das kann Mathilde von sich nicht mehr behaupten. Bis vor einiger Zeit ist sie ihrem Beruf mit großer Begeisterung nachgegangen. Doch seit Monaten verschlechtert sich ihre Arbeitssituation zusehends. Liegt es wirklich daran, dass sie ihrem Chef in einer Besprechung offen widersprochen hat? Wird sie deshalb von allen wichtigen Sitzungen ausgeschlossen? Und landen deshalb nur noch belanglose Aufgaben auf ihrem Tisch? Verzweifelt und mit den Kräften am Ende sucht sie eine Wahrsagerin auf. Die prophezeit ihr eine besondere Begegnung für den 20. Mai. Mathilde beginnt zu hoffen. Doch worauf? Auf das befreiende Gespräch mit ihrem Chef? Auf die Rückkehr ihrer alten Stärke? Oder auf die Begegnung mit einem ganz besonderen Mann? Der Tag der Prophezeiung bricht an …“ (Quelle: Verlagsseite)

Meine Meinung
Dieses Buch hat einiges von mir abverlangt – nicht nur, weil es ein ernstes Thema aufgreift, das die Autorin wirklich eindringlich schildert, sondern weil ich mich am Ende alleine gelassen fühlte und ich dadurch jetzt auch nicht weiß, was ich von dem Buch halten und wie ich es bewerten soll.

Es gibt 2 Handlungsstränge – einmal einen um Mathilde, von der man eingangs erfährt, dass sie bei einer Wahrsagerin war, die den 20. Mai als einen Tag der Wendung vorhergesehen hat. Mathilde erzählt in Rückblenden, was dazu geführt hat, dass sie zur Wahrsagerin gegangen ist, bis dann tatsächlich der 20.5. da ist. In einem anderen Erzählstrang begleitet man Thibault, einen Allgemeinmediziner, der als fahrender Arzt in Paris arbeitet, gedanklich aber während des Arbeitstages bei sich und seiner Beziehung feststeckt.

Es geht in diesem Buch vor allem um Mobbing am Arbeitsplatz – so viel kann ich sicher verraten. Und ich bin in den Schilderungen dessen, was Mathilde passiert, regelrecht eingetaucht und habe mit ihr gefühlt, war also völlig reingesogen in diese Geschichte. Der Erzählstrang um Thibault hat mich nicht so packen können; er läuft die ganze Zeit parallel und ich war nur insofern gefesselt, das ich mich gefragt habe, wie die beiden noch miteinander verknüpft werden. Das war es, was mich total gefesselt hat – und gleichzeitig auch das, was mich am Ende maßlos enttäuschte, denn die Verbindung der beiden Stränge hat mir gar nicht gefallen und mir einfach zu viel Raum für eigene Interpretationen gelassen. Wer offene Enden mag, wird das nicht schlimm finden, ich aber hatte das Gefühl, dass mich die Autorin die ganze Zeit an der Hand geführt hat und mich die letzten 10 Seiten einfach losgelassen hat. Natürlich kann ich mir meine eigenen Gedanken machen, aber ich hätte mir einen Wink gewünscht, einen ein bisschen offensichtlicheren Schluss.

Für die ersten drei Viertel hätte ich dem Buch 5 Sterne gegeben, dieses offene Ende wirft für mich aber leider einen großen Schatten auf das Buch. Den Schreibstil aber, den finde ich weiter überragend. Er ist ruhig und eindringlich, voller toller Bilder, mal ist die Autorin oberflächlich in ihren Beschreibungen, mal detailliert und genau hinschauend. Dialoge gibt es kaum in dieser Geschichte, trotzdem ist es nicht langweilig, ganz im Gegenteil. Es herrscht eine packende Atmosphäre, eine unterschwellige Bedrohung, die mich als Leser völlig eingenommen hat.

Mit Mathilde hab ich sehr gelitten und ich kann sie sehr gut verstehen. Zum Glück hat mich dieses Thema bisher nicht bedroht, und während ich diese Geschichte gelesen habe, dachte ich die ganze Zeit, dass ich nicht wüsste, ob ich dem so lange hätte Stand halten können – sicher hätte Mathilde an der einen oder anderen Stelle anders handeln können oder auch sollen, aber aus ihrer Sicht fand ich die Handlungen absolut nachvollziehbar. Damit ist das Buch aktueller denn je – nur bietet es leider keinen Ausweg und wirkt insgesamt sehr hoffnungslos und düster; wahrscheinlich ist aber genau das auch die Realität.

Delphine de Vigan hat mit diesem Roman mal wieder bewiesen, dass sie großartig schreiben kann, dennoch war ich am Ende enttäuscht, weil ich mich allein gelassen gefühlt habe. Ich werde daher diesmal keine Sterne vergeben, sondern jedem raten, sich eine eigene Meinung zu bilden. 

Mein Fazit
Ein düstreres Buch, das wenig Hoffnung schenkt, das mich über weite Strecken aber dennoch packen und überzeugen konnte – dies ist vor allem dem eindringlichen und fantastischen Schreibstil zu verdanken, mit dem die Autorin Atmosphäre und Bilder schafft, die mich beeindruckt haben. Das offene Ende hat mich dann aber sehr enttäuscht und ein Gefühl hinterlassen, alleine zu sein. Ich bewerte dieses Buch daher nicht, empfehle es aber gerne weiter, wenn man in diese ernste Thematik realistische Einblicke haben möchte.

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