18. Juli 2023

[Rezension] Simone Lappert - "Der Sprung"

Simone Lappert - Der Sprung
Gegenwartsliteratur
 

 Verlag: Diogenes-Verlag
 ISBN-13: 978-3-257-07074-3
 Seiten: 336 Seiten
 Erschienen: 28.8.2019
 Covermotiv: Illustration von Tina Berning ›#001 Pepita‹ 

   
Zum Inhalt
„Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit.“ (Quelle: Verlagsseite)

Meine Meinung
Das Buch steht schon sehr lange auf meiner „Want to read“-Liste, und nachdem ich es mal als Hörbuch angefangen hatte, aber wegen Verwirrung ob der Vielzahl an Charakteren abgebrochen hatte, habe ich jetzt endlich zum Buch gegriffen. Zum Glück – denn die Geschichte ist großartig und gibt viele Denkanstöße.

Auf einem Dach steht eine Frau zum Sprung bereit. Doch es geht weniger um sie, vielmehr um die Menschen um sie herum, die mal mehr, mal weniger mit diesem Ereignis verbunden sind – Edna zum Beispiel sieht sie als erste und ruft die Polizei, bei Roswitha im Café treffen sich Schaulustige, der schlecht laufende „Tante-Emma-Laden“ von Theres und ihrem Mann erlebt ein Comeback, weil sich dort alle aus der schaulustigen Menge mit Proviant eindecken, der Polizist Felix ist als erster auf dem Dach und spricht mit der jungen Frau, die gehänselte junge Winnie filmt das ganze Geschehen, Egon mit seinem Feldstecher kann ganz genau hinschauen – und das waren längst noch nicht alle, die irgendwie mit dem Sprung zu tun haben. Und so verwirrend es am Anfang ist (und ich empfehle, sich zu den einzelnen Charakteren kurze Notizen zu machen, um sie rasch einordnen zu könne, wenn wieder von ihnen die Rede ist), so löst sich am Ende doch alles sehr gut auf, und man gewinnt den Eindruck, die ganze Szenerie gleicht einem Uhrwerk, in dem jeder ein kleines Zahnrädchen darstellt, ohne das das Geschehen so nicht ablaufen würde. Aber nicht nur, dass sich am Ende ein großes Ganzes ergibt, auch jeder Einzelne hat eine eigene Geschichte und die Szenerie einen ganzen bestimmten Einfluss auf das eigene Leben. Das bietet natürlich viel Raum zum Nachdenken – nicht nur im Rahmen des Romans, sondern auch über das eigene Leben und die Bedeutung von Ereignissen für andere und einen selbst. Ich musste die ganze Zeit an den sogenannten „Schmetterlingseffekt“ denken und finde, dieser Roman ist ein tolles Beispiel, um diesen Effekt zu erklären.

Die Charaktere sind trotz der Vielzahl und der Dünne des Buches sehr gut gezeichnet – dabei hat jeder eigene Kapitel, und durch die Überschrift weiß man als Leser, um wen es geht, und in diesen Kapiteln beschreibt die Autorin Dinge oder Handlungen rund um die Figur, die sie sehr gut charakterisieren ohne sich dabei lange mit Äußerlichkeiten oder Geschichten hinter der Figur aufzuhalten. Sie hat dabei eine sehr präzise und pointierte Art, dass man manchmal schon nach wenigen Sätzen weiß, in welchen Kontext jemand lebt oder was ihn in eine bestimmte Lebenssituation gebracht hat. Und so ungewöhnlich die einzelnen Lebensumstände sind, wirken doch alle sehr realistisch – es gibt die betrogene Ehefrau, den Obdachlosen, der früher mal ein gutes Leben hatte, den Hutmacher, der von seinem Handwerk nicht mehr leben konnte, die gehänselte Schülerin, einen Fahrradkurier und noch einige mehr.

Wer denkt, in diesem Buch ist das Thema „Depression“ und „Suizid“, liegt falsch – die Dame auf dem Dach bietet nur den Rahmen der Geschichte, und sie bekommt als einzige auch kein eigenes Kapitel, keine eigene Sprechstimme. 

Der Aufbau des Romans ist sehr gut gelungen, und die einzelnen Figuren und deren Erleben erzählen sehr gut das, was auf dem Dach geschieht. Dabei hat die Autorin es geschafft, jeder Figur eine eigene Erzählstimme zu geben – man kann also gar nicht von „dem Schreibstil“ sprechen, denn der ist wirklich bei jeder kapitelbildenden Figur anders.

Es ist natürlich kein Buch, das im Sinne eines Krimis spannend ist, und dennoch entsteht ein ganz eigener Sog, der mich den Roman hat kaum aus der Hand legen lassen. Das Ende ist anders als gedacht, und ich fand die Auflösung sehr gelungen und großartig. Natürlich gibt es bei der Vielzahl an Figuren und damit auch Handlungssträngen ein paar, die offen geblieben sind, aber auch das fand ich sehr authentisch und glaubhaft.

Ich habe diesen Roman sehr gerne gelesen und empfehle ihn unbedingt weiter.

Mein Fazit
Ein Roman, der gut den sogenannten „Schmetterlingseffekt“ beschreibt: Was macht ein zentrales Ereignis, hier der drohende Sprung einer jungen Frau von einem Dach, mit den Menschen drumherum. Es gibt viele Charaktere in diesem Roman, was für mich mit beim Lesen gemachten Notizen aber kein Problem war, und jeder hat eine eigene Erzählstimme – am Ende fügen sich viele Dinge zusammen, und trotz einiger offener Enden ist das Gesamtbild doch komplett. Ich fand das Buch großartig.


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